Georg Wilhelm Henning
Ein Siegener als Organisator der sibirischen
Eisenindustrie zur Zeit Peters des Großen.
Gründer der Stadt Swerdlowsk.
von Alfred
L ü c k
Das Großherzogtum
Berg war eine kurzlebige, von Napoleon geschaffene deutsche
Verwaltungseinheit, zu der auch das Siegerland
gehörte. Im Jahre 1811 erschien dort der erste Jahrgang des „Intelligenzblatt für das Großherzogtum
Berg", auf dessen Seite 115 diese „Anfrage"
zu lesen ist:
„Am Schluß vorigen
Jahres erzählte mir ein freundschaftlicher
Brief aus Rußland manches Interessante, und darunter Folgendes, was hin und wieder noch Andere in-teressiren mag. „Oben am Onega See ist eine
mineralische Quelle, an welcher Catharlna die zwote den Brunnen
getrunken hat, und sich zu dem Ende ein
eigenes Palais dort hat erbauen
lassen. Da hängt jetzt noch eine
eiserne Tafel mit folgender Inschrift: .Diese Quelle von heilendem
Mineralwasser ist zum Gebrauch Sr.
Zaarischen Majestät Peter I. und zum Besten des Publikums entdeckt worden durch die Sorgfalt und Geschicklichkeit des Herrn Georg Wilhelm Hennin, Sr.
Maj. unterthänigsten Knechts, Obristen der
Artillerie, und Com-mandanten in Olonetz, gebohren in Nassau-Slegenl* Die erwähnte Quelle ist 1716 bekannt gemacht worden."
Von einer Familie Hennin in Siegen ist mir nichts
bekannt. Mein Vater, ein sehr alter Mann,
glaubt sich aus seinen Jahren besinnen zu
können: der befragte Hennin sey Von
der Sieghütte gebürtig, mit der Seel-bfichischen Familie verwandt,
auch einmal nach Siberien verwiesen gewesen, als General in Petersburg gestorben, und habe Nachkommen in den blühendsten Umständen
hinterlassen.
Wer hat wohl nähere Nachrichten von diesem Mann, dessen Carriere auf keinen Fall gemein
gewesen seyn muß, da er als gemeiner Leistenmacher (Former) von
hier weggegangen seyn soll? Ich würde
die Mittheilung solcher nähern
Nachrichten mit Dank anerkennen, so
wie man mich auch durch nähere Auskunft über den genannten Gesundbrunnen am Onega See aus irgendeiner
Reisebeschreibung, sehr verbinden würde.
Siegen, den 31. März 1811
Dr. H. A. Achenbach, Pfarrer."1)
Anscheinend hat Pastor Achenbach keine Antwort bekommen. Im Siegerländer Schrifttum taucht nämlich jener Hennin nie wieder auf, und es hat
genau einhundertundsechzig Jahre gedauert,
bis man Näheres über ihn erzählen kann, wobei sich
herausstellt, daß Pfarrer Achenbachs
Vermutung, Hennin habe „keine gemeine
Carriere" gemacht, eher unter- als übertrieben erscheint.
Bei beruflichen Forschungen zur Geschichte des Eisens fand der Verfasser dieser Zeilen den Namen Hennin bzw. Henning immer wieder im Zusammenhang mit dem Entstehen der russischen Eisenindustrie. Die beiden
großen Geschichtsschreiber des Eisens, Beck2) und Johannsen3),
erwähnen diesen Hennin, bezeichnen ihn
aber als holländischen
Feuerwerker bzw. als preußischen Offizier.
Sein Vorname Georg Wilhelm allerdings
ließ mich vermuten, daß es sich bei ihm um jenen Entdecker der Heilquelle am Onega-See handeln müsse,
und kurze Zeit darauf wurde mir anläßlich
der Begutachtung des russischen Teils einer meiner eisengeschichtlichen Arbeiten4) von
Professor Dr. Erik Amburger aus Gießen
bestätigt, daß der große Organisator der russischen
Eisenindustrie zur Zeit des Zaren Peter I., Georg Wilhelm Hennin (oder auch Henning), nach seinen
eigenen Angaben aus Siegen stamme.
Prof. Amburger hatte die
Absicht, über Henning etwas zu veröffentlichen, doch sind
') Nach dem Exemplar im Hessischen Hauptstaatsarchiv, Wiesbaden.
2) Beck, Dr. Ludwig: Die Geschichte des Eisens,
3. Teil, Braunschweig, 1897.
3) Johannsen, Dr. Otto: Geschichte des Eisens,
Düsseldorf, 1953.
') Lück, Alfred: Beiträge zur Geschichte der Weißblecherzeugung, In „Stahl und Eisen", Heft 26, Düsseldorf, 1965.
seine Unterlagen im Zweiten Weltkrieg bzw. in der Nachkriegszeit verlorengegangen. Mit den Nachforschungen mußte ich also völlig neu beginnen.
Im Taufbuch der
evangelischen Kirchengemeinde Siegen steht
zum XX. Sonntag nach Trinitatis 1665 vermerkt:
„Siegen... den 11. (Oktober) ist ein kind in der morgens-bethstunde getaufft: Johannes Henning und Catharina,
Eheleute; Georg Adam Klingspor, junger Gesell5),
und Christian Wilhelm Naurath, junger
Gesell, Vattern. Das Kind: Georg
Wilhelm."
Die Hochzeit der Eltern und somit der Mädchenname
der Mutter waren im Heiratsbuche nicht zu
finden, doch berichtet das „Siegener
Bürgerbuch von 1670 bis 1675" zum.17./27. 2. 1674 den Zuzug eines „fremb-den" Mannes namens Johannes Henningh, der offensichtlich eine Siegener Bürgerstochter geheiratet hat und mit dem Vater des
Täuflings identisch ist6).
Den Namen Henning gibt es
nämlich in diesen Jahren sonst nicht in Siegen. Vier Jahrzehnte
zuvor wirkte allerdings (von 1632 bis 1635)
in Siegen als zweiter Pfarrer Konrad Henning. Er war 1606 in
Immenhausen bei Hofgeismar als Sohn des Ger-nand
Henning (angeblich aus altem niederländischem
Geschlecht „von Hennin") geboren, studierte in Marburg 1622/23 und in Herborn 1625/26 (Matrikel Nr. 2269), wurde 1629 Pfarrer in Dillenburg, dann 1632 bis 1635,
wie gesagt, zweiter Pfarrer in Siegen, kehrte
von hier nach Dillenburg zurück, von wo er 1638 als Hofprediger nach Hanau berufen wurde. Dort versah
er von 1640 bis 1646 das Amt des zweiten,
von 1646 bis 1653 das des ersten Stadtpfarrers und reformierten Inspektors. Aus seiner Ehe mit Christina Ehrenhold gingen sechs Kinder hervor, und zwar fünf Söhne und eine Tochter7).
Der älteste Sohn,
der in Herborn 1630 geborene Ägidius
Henning, wurde Pfarrer in Eichen (Kreis
Hanau). Er gab als „Querce-tanus" eine „Bauernanatomie"
heraus, die als ziemlich „saftig"
gilt8) und ihm in der Hanauer Literatur einige
Beachtung verschafft hat. Bedeutender als er wurde sein Sohn Heinrich Christian „von" Henning (1658—1704). Er promovierte in Utrecht 1679 zum
Dr. med., beschäftigte sich aber neben der
Medizin mit dem Studium der Geschichte und
klassischen Philologie und griff in den damaligen Streit um die richtige Aussprache des Griechischen ein.
Bald nach 1679 wurde er Rektor des Gymnasiums zu Tiel in Hol-ländisch-Geldem. 1690 erhielt er eine ordentliche
Professur für Geschichte und Beredsamkeit an der philosophischen Fakultät
der Universität Duisburg9)
und eine außerordentliche in
der dortigen medizinischen Fakultät. 1702 wurde er ordentlicher Professor
für Medizin. Für unsere Studie ist von seinen zahlreichen Veröffentlichungen
eine besonders interessant. Er gab nämlich
(Wesel 1702) den Reisebericht seines Kollegen Arnold von Brand (1681—1691) heraus, der 1674 den kurfürstlich-brandenburgischen
Gesandten Joachim Scultetus nach Moskau
begleitet hatte.
Der andere Sohn des für
einige Jahre in Siegen amtierenden
Pfarrers Konrad Henning, der zu Hanau am
27. Juli 1645 geborene Johannes Henning, besuchte zunächst das Pädagogium der Hohen Schule in
Hanau, wo er 1656 von der Quarta in die Tertia
und 1658 in die Sekunda versetzt wurde. Verhältnismäßig spät
ließ er sich (1665) bei der
neugegründeten „Akademie" in Hanau immatrikulieren: „Nr. 18,
Johannes Henningius, Phil. Stud." Ob er einen akademischen Abschluß erlangt hat, ist nicht fest-
5) In der
Familiengeschichte Klingspor (Lück, Alfred, und Klingspor, Reinhard:
Chronik und Stammtafel der Familie
Klingspor, Siegen und Frankfurt/M., 1956)
findet man für jene Zelt keinen Georg Adam
Klingspor, aber einen 1649 getauften Görg
Adrian Klingspor, der eine 1641 geborene
Schwester Catharina hatte. Übrigens hat
Görg Adrian Klingspors Onkel Hans Henrich
Klingspor in zweiter Ehe 1685 eine Hanauerin
geheiratet, nämlich Catharina Elisabeth, die
Witwe des Stadtrentmeisters Johann
Hessig zu Hanau.
') Irle, Dr. Lothar: Die
Siegener Bürgeraufnahmen 1575—1700, in „Siegerland",
Band 15, Seite 101, Siegen, 1933.
7) Freundliche Mitteilungen der Herren Pfarrer i. R. Walter Thiemann, Siegen, und Pfarrer K. Heinz Kurz, Hanau. Näheres in Kohlenbusch, L.:
Pfarrerbuch der Hanauer Union, Seite 6, Darmstadt,
1938.
') Freundliche Auskunft
des Herrn Dr. Heinrich Bott, Hanau. Näheres
bei Heiler, Carl: Das Leben des Pfarrers Ägidius
Henning, Hanauisches Magazin 8, Seite
11, Hanau, 1929.
') Ring, Walter:
Geschichte der Universität Duisburg, Seite 172 f., Duisburg, 1920. An der Entstehung der Universität Duisburg hat Fürst Johann Moritz von Nassau-Siegen maßgeblichen Anteil. Er hat sie als Statthalter des Großen Kurfürsten am 14. Oktober 1655 eingeweiht und die ersten Professoren berufen. Später dozierte dort u. a. der aus
Siegen gebürtige Professor Heinrich Adolf Grimm (1779—1813).
zustellen. Später findet man ihn als Schreiber auf der Rentkammer in Hanau, von wo er jedoch 1668 „wegen seiner mit einem elenden Stolz verbundenen Fahrlässigkeit" entlassen wurde. Worin diese Fahrlässigkeit bestand, ist nicht mehr zu ermitteln. Sein Name taucht aber auf im „Versuch eines
hanauischen Dienerbuches" des Hanauer Archivars und Historiographen Adam Bernhard (um 1758). Dort heißt es (auf Seite 108 des Manuskriptes, das sich im Archiv des Hanauer Geschichts-Vereins befindet):
„167....... Henning, Stückcapitain. Er ist
deswegen wol zu merken, weil er der vatter
des in Moscowitische Dienste gegangenen General-Lieutenants von der Artillerie de Hennin gewesen, der im 72. Jahr seines Lebens in Moskau anno 1750 gestorben, vid. Hanauer Zeitung de hoc
anno nr. 42. Er brachte seinen Vatter, unseren capitain, von hie in
Moscowitische Dienste, darin er als
Oberst-Lieut. bei der Artillerie sein Leben beendigte."10)
Für die Stadt Siegen
verlief das Jahr 1674, in welchem Johannes Henning als „frembder" Mann hier zuzog, sehr turbulent.
Im Zuge der Kriegsgeschehnisse zwischen den Niederlanden und Frankreich hatten bereits im Vorjahre 1200
Franzosen unter dem General Graf Königsmarck im Siegerlande
Quartier bezogen, und von November 1673 bis
Mai 1674 lag Herzog Karl V.
von Lothringen mit seinem Regiment in Siegen.
Ob nun der Stück-Capitain
(Artillerie-Offizier) Johannes Henning infolge kriegerischer Ereignisse nach Siegen kam oder ob er hier Leute
aufsuchte, die ihm sein Vater als alte
Bekannte empfohlen hatte, steht dahin. Jedenfalls erwarb er 1674 das Bürgerrecht
und ließ zwei Jahre später seinen Sohn
Georg Wilhelm taufen.
?Der Vater des Pfarrers
Heinrich Adolf Achenbach11) erinnerte sich, wie es in der „Anfrage" vom Jahre 1811 heißt, daß Georg Wilhelm Henning als junger Mann Former wurde, also
wohl in einer Siegener Eisengießerei arbeitete.
Die Eisengießereien jener Zeit lieferten in großem Umfange Geschütze und vor allem Granaten, Schrapnells und dergl. für die Artillerie.
Ein Hauptabnehmer war u. a. die Armee der Generalstaaten, also der Niederlande. So ist es nicht verwunderlich, daß man den jungen Henning in Amsterdam als „Feuerwerker" findet. Mit Feuerwerker
bezeichnete man damals
allgemein die „technischen" Unteroffiziere des Geschützwesens der Armee. Und hier hatte der zwei-undzwanzigjährige
Siegener die Begegnung seines Lebens.
Es gibt über diese
Begegnung zwei Berichte. Der erste, der stark legendenhaften Charakter trägt,
lautet so:
Im Jahre 1698 trifft in Amsterdam auf der Straße eines Abends Henning einen Mann, der sich verirrt hat und nicht mehr in sein Quartier zurückfindet. Er bittet Henning, ihm
den Weg zu zeigen. Die beiden kommen ins Gespräch. Henning stellt fest, daß
der Mann eine sonderbare Aussprache
hat, und fragt, woher er komme. Der Mann sagt:
„Aus Rußland!"
„Daß Sie Ausländer sind",
sagt Henning, „habe ich wohl gehört,
aber ein Land namens Rußland
kenne ich nicht, und ich habe mir viel
Mühe mit der Geographie gegeben!"
„Zeig mir den Weg in meine
Wohnung, und ich zeige dir auf einer neuen Nürnberger Landkarte, wo Rußland liegt und wie groß es ist. Wer weiß, vielleicht nehme
ich dich sogar mit!"
Der Leser wird längst
erraten haben, wer jener Fremde war, der unseren jungen Henning nach dem Wege fragte. Schließlich kennt man ja Lortzings Oper „Zar und Zimmermann" und weiß, daß zu jener Zeit der russische Zar Peter I. inkognito in den Niederlanden weilte, um das Schiffbauerhandwerk zu erlernen.
Dieser Aufenthalt des
Zaren in Holland ist geschichtlich aber keineswegs so romantisch,
wie die Oper es schildert, hat vielmehr einen
sehr realen Hintergrund.
Der junge Zar wollte ein
europäisches Bündnis gegen die Türken zustande
bringen. Zu diesem Zwecke reiste eine russische Gesandtschaft an die europäischen Höfe, und Peter schloß
sich ihr an, obwohl seit siebenhundert
Jahren kein russischer Herrscher mehr in den Westen gegangen war12).
10) Freundliche Mitteilung
des Herrn Dr. Heinrich Bott, Hanau.
") Pfarrer Dr.
Henrich Adolf Achenbach (1765— 1819). Sein Vater war
Pfarrer und Inspektor Johann Henrich Achenbach (1731—1812). Ein Enkel des Dr. Henrich Adolf Achenbach war Dr. Heinrich von Achenbach (1829—1899), preußischer Staatsminister und Geschichtsschreiber des Siegerlandes
.
12) Sethe,
Paul: Russische Geschichte, Frankfurt, 1965.
Seite 66.
lte nicht nur das Bündnis erreichen, sondern auch den Westen und seine Macht begreifen lernen. Als Artillerie-Unteroffizier Peter Michailowitsch getarnt, arbeitete er auf holländischen Werften als Schiffszimmermann, lernte in England
Nautik, Zahnziehen, Klempnern und
Segelmachen und ein Dutzend andere Fertigkeiten. Das Bündnis kam nicht zustande, und die Nachricht von einem Aufstand der Strelitzen13)
rief den Zaren vorzeitig nach Rußland
zurück. Georg Wilhelm Henning reiste mit.
Der zweite Bericht über
Hennings Bekanntwerden mit dem Zaren hat größere
Wahrscheinlichkeit. Danach hat der Amsterdamer
Bürgermeister van Wietzen dem Zaren
den jungen Henning empfohlen, weil er
bei ihm eine gründliche Kenntnis der Chemie, Metallurgie und des Hüttenwesens festgestellt habe14).
Wir wissen nicht, auf
welchem Wege Henning nach Rußland gekommen ist. Vielleicht blieb er im Gefolge des Zaren und verweilte mit ihm in Krakau am Hofe Augusts des Starken, mit dem Peter politisierte und nächtliche Gelage abhielt, bei denen Wein und Frauen in Fülle vorhanden waren und bei denen die beiden Kraftmenschen miteinander
wetteiferten, wer die meisten Silberteller mit bloßer Hand verbiegen könne.
Hier änderte Peter die Richtung seiner Politik, und die beiden Fürsten beschlossen den Krieg gegen Schweden, um ihm die Ostseeprovinzen zu entreißen.
Als Peter nach Hause kam,
war seine erste Tat, einigen vornehmen
Bojaren15) die Barte (für sie fast heilige Symbole
russischer Überlieferung) abzuschneiden
als Ankündigung einer Reihe von Umwälzungen, die Rußland erschüttern sollten. Dann wandte
sich der Zar den Strelitzen zu, deren
Aufstand inzwischen niedergeschlagen
worden war. Er fand die Urteile zu
mild, ordnete neue Untersuchungen an,
war selbst erster Inquisitor und
Hauptfolterknecht. Das Ergebnis: zwölfhundert
Todesurteile. Auf den großen
Platz vor dem Kreml in Moskau wurden
die Ruinen menschlicher Leiber geschleppt, die durch alle Qualen der Untersuchung
zerbrochen und geschunden waren. Den ersten fünfen
hieb der Zar selber die Köpfe
ab, dann zwang er viele Bojaren zu der
gleichen Scheußlichkeit, den Rest der Verurteilten überließ er
den bezahlten Henkern16).
Das waren wohl die ersten Erlebnisse Hennings in seiner neuen Stellung, für die er 67 Rubel jährlich bekam. Er erfuhr aber auch die Anfänge einer völligen Veränderung der Verwaltung. Die Beamtenlaufbahn stand
nun grundsätzlich jedem offen, nicht mehr nur den Adligen. Viele Männer
aus niedrigen Volksklassen bekleideten nun
hohe Ämter, und diese Männer
führten zum Teil ein geradezu
abenteuerliches Leben. Mit fast allen
jenen berühmt-berüchtigten Menschen dieser Epoche Rußlands
ist Henning bekannt gewesen, und deshalb sind
Abrisse ihres Lebens in manchmal
recht umfangreichen Fußnoten
geschildert. Der Leser wird um die
Lektüre dieser Fußnoten gebeten,
denn ihr Inhalt gehört zur Zeit und zur Umwelt von Hennings Leben.
Henning begann in Moskau damit, junge Adlige im Artilleriewesen zu unterweisen, wofür
er die einmalige Summe von 500 Rubeln
erhielt. Sein Aufstieg war steil. 1700 wurde
er Unterleutnant, 1702 Hauptmann, 1704
betrug sein Jahresgehalt 156 Rubel17), 1706 stand er im Range
eines Majors. Das gesamte Ingenieurwesen unterstand damals der Artillerie. Bei der Eroberung von Wiborg im Jahre 1710 gehörte er zur Truppe des Grafen Jakov Wilimowitsch Bruce18). In jener Zeit baute Henning Festungsanlagen in Gangut und kartographierte die Stadt und Umgebung von Keksholm (= Keksgolm, Kexholm, heute Kägisalmi am Ladogasee).
") Strelitzen (= Schützen). Name der vom Zaren Iwan IV. (1533—1584) geschaffenen Leibwache, die sich allmählich zum stehenden Heer entwickelte und bis zu 50 000 Mann umfaßte. Sie erhielt, um sich. selbst versorgen zu können, große wirtschaftliche
Vorteile und erlangte politischen
Einfluß.
") Korsachowa, W.:
Willm de Gennln, In Russklj blograficesklj slovar,
Band 4, o. O. um 1899. Für die Obersetzung
der russischen Texte danke ich Herrn
Dipl.-Ing. Nikola Tremmel, Siegen.
") Bojar (aus türk.
bajar = der Vornehme), im alten Rußland Angehöriger
der obersten Schicht des fürstlichen
Dienstadels, Krieger und Mitglied des
Verwaltungsrates (Duma) des Fürsten, mit
Landbesitz ausgestattet. Rangordnung nach
Dienstalter.
") Wie Anm. 12, Seite 68.
") Amburger, Prof.
Dr. Erik: Die Anwerbungen ausländischer Fachkräfte
für die Wirtschaft Rußlands vom 15. bis ins 19. Jahrhundert, Wiesbaden, 1968, Seite 62.
") Jakov Wilimowitsch Bruce (1670—1735),
Sohn eines Schotten, Leiter einer
Artillerieschule in Moskau, später
Generalfeldzeugmeister, ein Mann von
großer Allgemeinbildung, mit mathematischen,
astronomischen und bergtechnischen
Kenntnissen.
Nach der Eroberung von Keksholm bekam er für seine Vorarbeiten drei Prämien: eine goldene Medaille mit Brillanten im Werte von 150 Rubeln, ein Dorf (mit sämtlichen Einwohnern als Leibeigene) namens Asyiowa in der Nähe von Keksholm sowie die Beförderung
zum Oberstleutnant.
Schon aus dem Jahre 1704
wissen wir, daß er außer mit kriegerischen
Dingen auch mit der Entwicklung des
Metallerzbergbaus beschäftigt
war, denn aus diesem Jahre stammt ein
Brief an den Zaren, in dem Henning über die Ausschmelzung der
ersten anderthalb Pfund Silber aus einem sibirischen Bergwerk berichtet19). Mit größter
Wahrscheinlichkeit wurde Henning auch
bei der Einrichtung von Fachschulen für das Bergwesen herangezogen, die 1709 ins Leben gerufen wurden und ohne die der gewaltige Aufschwung der Metallurgie im Ural und im Olonecer Gebiet nicht denkbar wäre20).
Speziell die Verhüttung der meist zufällig entdeckten Eisenerzvorkommen war in Rußland länger als in anderen Ländern eine Art Hausindustrie. Fast immer handelte es sich dabei um leicht schürfbare und mit primitiven
Methoden bequem zu verschmelzende Erze, besonders um Raseneisenstein der Sümpfe und Moore. Gewiß hatte man bereits im 17. Jahrhundert systematisch nach Erzen
gesucht, und im Ural wurde schon 1631
das staatliche Nizynski-Werk erbaut,
das jedoch bald wieder einging, ein Schicksal, dem die meisten
derartigen Grün* düngen jener Zeit verfielen. Die Hauptschwierigkeit war die Beschaffung von Arbeitskräften. Rußland war bis dahin ein
reines Agrarland und besaß
keine Menschen für industrielle
Lohnarbeit. Fremdländische Arbeiter
hätten die Rentabilität der jungen Industrie in Frage gestellt. Allerdings besaß Rußland in den leibeigenen Bauern zwar sehr ungefüge, aber dafür auch sehr
billige Arbeitskräfte. Nur, diese
Leibeigenen gehörten entweder der
Krone, der Kirche oder Großgrundbesitzern.
Andere durften keine Leibeigenen
besitzen, es sei denn, daß sie ihnen vom Zaren geschenkt wurden.
Später (seit 1721) durften die Fabriken ganze
Dörfer samt den Bauern kaufen und die
Bewohner als Industriearbeiter verwenden mit der Maßgabe, daß
die Bauern nicht d,em Fabrikherrn, sondern
der Fabrik zu ciigen gehörten.
Sie mußten in den Betrieben gegen
einen lächerlich geringen Lohn oder sogar ganz
unentgeltlich, d. h. nur gegen Beköstigung,
arbeiten*1).
Nachdem im Jahre 1712
Henning dem Grafen Apraksin22) eine äußerst interessante Aufstellung gegeben hatte über die Anzahl der vorhandenen Geschütze und Pulvermengen in den einzelnen
Festungen, erhielt er vom Zaren den Befehl,
In Petersburg (heute Leningrad) ein Werk zur Herstellung von Kanonen und Pulver zu erstellen. Henning hatte geplant, für diese Geschützgießerei
Holzbauten zu errichten (wie in seiner Heimat, dem Siegerland, wo die großen Gießhallen Fachwerkgebäude
waren), und Graf Apraksin hatte diesem Plan zugestimmt, aber das Admiralitätskollegium verfügte statt dessen
den Bau niedriger Lehmhütten. Henning wußte, daß deren
Erstellung wesentlich länger dauern würde,
und weil er den Zorn des Zaren fürchtete,
machte er Einwände. Aber die
Geschützgießerei in
Petersburg konnte dann doch noch im Jahre 1712 den Betrieb aufnehmen.
Im Jahre darauf wurde
Henning zum Kommandanten von Olonec ernannt. Das
Gouvernement Olonec liegt (grob gesagt) zwischen
Petersburg (Leningrad) und dem Ladogasee,
hat bis zu 300 m hohe Berge und etwa
2000 Seen, darunter den Onegasee. Das
Klima ist kalt, rauh und feucht. Aber
man findet dort Erze, die sich gerade zum Gießen von Geschützen
hervorragend eignen. Gleichzeitig wurde
Henning Chef der Werke Petrowsky, Powenezky und Kontscheosersky. Er erfüllte die Erwartungen, die Zar Peter in ihn gesetzt hatte, vollkommen. Die in Petersburg in der neuen Gießerei hergestellten Kanonen
waren so
") Semjonoff, Juri: Sibirien. Eroberung und Erschließung
der wirtschaftlichen Schatzkammer des Ostens,
Berlin, 1964.
20) Grau, Dr. Conrad: Der Wirtschaftsorganisator,
Staatsmann und
Wissenschaftler Vasilij N.
TatiScev (1686—1750),
Berlin, 1963, Seite 11.
21) Graf, Georg Engelbert: Die russische Schwer
eisenindustrie, in „Der Kampf,
Sozialdemo
kratische Monatsschrift, Heft
6, Wien, 1918,
Seite 438 ff.
a) Graf Fedor Matwejewitsch Apraksin (1661— 1728) aus tatarischem Adel, von Zar Peter I. zum Generaladmiral
ernannt, Schöpfer der russischen Marine. Zweimal (1715 und 1718) in
Veruntreuungen verwickelt und schuldig befunden, jedoch gegen hohes Lösegeld begnadigt. Einer der vertrautesten Ratgeber des Zaren, obwohl er sich gegen viele Reformbestrebungen stellte. Wojwode in Archangelsk.
gut, daß beim Probeschießen von 1000 Geschützrohren nur drei zersprangen, daß also nur ein Ausschuß von 3 Promille entstand. Die erwähnten älteren Werke ließ
Henning aus- und umbauen und in einen so guten Zustand bringen, daß von nun an Marine und Heer mit Geschützen,
Gewehren und Munition ausreichend beliefert
werden konnten. Gleichzeitig sorgte
Henning für einen ständigen
Nachschub an Holzkohle, so daß
er schließlich immer einen Vorrat für eineinhalb Jahre hatte und der Marine 7000 Fässer Holzkohle abgeben konnte.
Georg Wilhelm Henning
hatte im Gouvernement Olonec systematisch nach Sumpfeisenerz
suchen lassen, und die von ihm geschulten
Leute entdeckten denn auch eine Lagerstätte,
die seiner Meinung nach mindestens zehn Jahre lang ausgebeutet werden konnte. Henning nannte den Erzfund „Grube Hoffnung". Weil die bisherigen Kupfererzvorkommen zu verlöschen drohten, stellte Henning auch für dieses Metall eine Suchgruppe
zusammen, die in den verschiedensten
Berggegenden suchte und auch fündig
wurde.
Ununterbrochen arbeitete
der findige Henning an technischen Verbesserungen, insbesondere auf dem Gebiete des Eisengießens,
wobei ihm seine Siegerländer Erfahrungen
sicherlich zugute kamen. Er konstruierte
eine Maschine mit Wasserradantrieb, die von drei (statt bisher 40) Männern
bedient werden und mit der man Vierund-zwanzigpfünder schleifen konnte. Stolz schrieb Henning darüber an den Grafen Apraksin: „Eine solche Maschine hat es bisher nicht gegeben, und ich glaube, daß noch niemand bisher von einer solchen Maschine gehört hat!"
Ein wenig verärgert war Henning darüber,
daß seine Bitte, ihm zu seiner Unterstützung den Fahnenjunker Wojekow zuzusenden, weder bei Apraksin, noch beim Fürsten Menschikow, noch beim
Generalfeldzeugmeister Bruce Gehör
fand. Gern hätte er junge Adlige
im Bergwesen ausgebildet, aber er
konnte keine bekommen, die lesen und schreiben konnten, so daß
Henning schließlich den Entschluß
faßte, Schulen zu errichten,
die das einfachste Grundwissen
lehrten.
Georg Wilhelm Henning
war bekannt dafür, daß er von sich und anderen das Äußerste
verlangte, aber er war gleichzeitig
geachtet, weil er wie ein Vater für seine
Untergebe-
nen sorgte und weil er
aus ihnen das menschenmögliche herausholte, ohne scharfe
Maßnahmen oder gar Strafen anzuwenden. Ein
Vorfall aus dem Jahre 1714 macht das deutlich. Henning war damals Chef
der Petrowsky-Werke, in denen es wegen der
harten Behandlung eine Menge unzufriedener Arbeiter gab. Verzögerungen in
der Geschützfabrikation waren die Folge.
Die Leute wurden geholt
und mit der Knute ausgepeitscht.
Dagegen verwehrte sich Henning in einem
Briefe vom 22. 11. 1714 an Apraksin ganz entschieden. Er verbot die körperliche Züchtigung, sondern zog jedem Arbeiter, der säumig war, zwei Rubel vom Monatslohn ab. Das erwies sich als
sehr wirksam.
Ein solcher Mann der
Praxis grollte natürlich öfter über die Verwaltungen und Behörden, denn in Petersburg schenkte man keineswegs den Eingaben von Henning
Immer die rechte Aufmerksamkeit. Offensichtlich schien der Deutsche den dortigen Ämtern
mit seinen ständigen Vorschlägen lästig zu fallen. Insbesondere in der Frage der Behandlung seiner Leute
kamen aus der Seekanzlei mitunter die
seltsamsten Entscheidungen, und
Henning war immer wieder gezwungen,
sich für die Interessen seiner Untergebenen einzusetzen.
Wiederholt hatte er z. B. um die Lieferung
dringend notwendiger neuer Uniformen
für das Olonecer Bataillon gebeten. Ende 1715 entschied die Seekanzlei, die Kosten für die Uniformen
seien vom Sold der Leute einzubehalten. Über
diese Ungerechtigkeit entrüstete
sich Henning sehr. In einem Brief vom
1. Dezember 1715 rechnete er dem Seeamt
vor, daß auf diese Weise ein Soldat drei Jahre brauchen würde, bis er seine Uniform bezahlt habe. Sollten die Soldaten, fragte Henning, so lange nackt herumlaufen? In demselben Briefe bat er den Grafen Apraksin,
irgendwie zu erreichen, daß die Umgebung
von Kargopolsk oder Bjelosorsk mit in das Werksgebiet einbezogen werde, weil die in Olonec ansässigen Leute unmöglich alle die gebotenen Aufgaben erfüllen könnten. Mit seiner Hartnäckigkeit
erreichte Henning schließlich,
daß Ihm Apraksin zwanzig junge Männer
aus verarmten Adelsfamilien zur Verfügung
stellte. Nun gründete er die längst geplante Schule, in der die jungen Leute, nachdem sie einmal lesen
und schreiben konnten, auch in die
Arithmetik, Geometrie, das Zeichnen und
in das Ingenieur-Artilleriewesen eingeführt
wurden. Der erste Lehrer war ein kriegsgefangener schwedischer Unterleutnant, den Henning sich mit Apraksins Erlaubnis
aus der Stadt Wologda herangeholt hatte. Die
Regierung gab für ihn und für die Schüler eine so
unbedeutende Summe, daß Henning
gezwungen war, ihnen aus seinen privaten Mitteln ein Taschengeld auszusetzen,
damit sie nicht verhungerten.
Zu den zwanzig jungen Adligen gesellten sich bald zwölf begabte Soldaten, die er im Hüttenwesen unterwies, insbesondere im Gießen von Geschützen, Ankern, Degenkörben usw. Der
junge Former in der Siege-ner
Eisengießerei hätte sich wohl kaum träumen lassen, daß er selbst einmal Männer in dieser Kunst ausbilden würde, noch dazu in einem Lande, das unendlich weit entfernt zu liegen schien.
Im Jahre 1716 besuchte
der Zar zusammen mit dem Grafen
Apraksin die Werke, die Henning unterstanden. Bei dieser Gelegenheit erzählte der Deutsche dem Grafen, er
sei mit guten Grundkenntnissen hergekommen,
aber an den Aufgaben, die man ihm hier
gestellt habe, sei er mehr und mehr gewachsen und habe sich vieles
selbst beibringen müssen,
beispielsweise den Schiffsbau. Und
gerade mit der Werft war der Zar
besonders zufrieden. Er gab sofort den Auftrag, zwei Ewer zu bauen. Wahrscheinlich hängt damit Hennings Beförderung zum Oberst zusammen.
In diesem Jahre traf
Henning ein schwerer Schicksalsschlag, denn plötzlich starb seine Frau Friederike Luise geborene von Bartig, die er über
alle Maßen geliebt haben muß. Der Verlust
erschütterte ihn so, daß ihm der
linke Arm und das linke Bein den Dienst versagten, und er einen vollen Monat krank zu Hause blieb. Er war gezwungen, den Grafen Apraksin um einen längeren Urlaub zu bitten. In Teplitz in Nordböhmen (mit
radioaktiven Quellen) wollte er sich einer
Kur unterziehen und dorthin gleichzeitig seinen Vater und seine
Verwandten kommen lassen, um sie
wiederzusehen.
„Ich habe meine
Verwandten achtzehn Jahre nicht gesehen und
nie einen Brief von Ihnen bekommen. Auch
sie wußten nicht, was mit mir los
war. Arm fuhr ich Vom Vater weg. Nun bin
ich durch die Gnade Seiner Majestät und
Eurer Erlaucht zu Ehren gekommen. In Gottes Namen gebe ich Seiner Majestät und Eurer Erlaucht mein Wort, daß ich nicht lüge, und daß
ich, so Gott will, in der von Ihnen festgesetzten Frist zurückkomme. Ich bringe auch für uns
besonders wichtige Fachkräfte mit."
Die staatsrechtliche
Stellung Hennings in Rußland ist wie überhaupt
die aller Ausländer nicht klar. Wenn er als Soldat gegolten hat, so stand er im Rang tiefer als russische Militärs, es sei denn, er habe sich auf Lebenszeit verpflichtet. Von manchen angeworbenen Ausländern
verlangte der Zar den Untertaneneid, doch
stieß der Wortlaut dieses Eides überall auf Widerspruch.
Deshalb konnten die Ausländer wählen zwischen dem Diensteid und dem russischen Untertaneneid. Neun
Zehntel leisteten den Diensteid, der sie nur
befristet, aber nicht lebenslang an Rußland band. Im russischen Heer wurden sogar den auf Grund ihrer Kenntnisse
erwünschten ausländischen Mitarbeitern oft bewußt
Beschränkungen auferlegt, um sie zur Annahme der russischen Untertanenschaft zu bewegen23).
Apraksin hatte nicht den
Mut, Hennings Bitte zu genehmigen,
sondern gab sie an den Fürsten Menschikow24)
weiter. Der ließ an Apraksin
schreiben: „Wenn wir ihm dies nicht
erlauben, stirbt er an Melancholie."
Es hat den Anschein, als
sei Henning in der zweiten Hälfte des Jahres 1716 tatsächlich in Teplitz zur Kur gewesen. Jedenfalls kehrte er im Januar 1717 zurück, wurde aber schon im April mit Geschenken zum preußischen König gesandt. Er kam in Berlin
am 20. Juni 1717 an. Offensichtlich hat er in
Preußen Fachkräfte für Rußland angeworben. In jener Zeit spricht aus seinen Briefen eine gewisse Unzufriedenheit. Er schuftete sich ab, wurde aber selbst in geringen Dingen nicht unterstützt, ja mußte
mitunter in fast peinlicher Weise auf sich aufmerksam machen, um Lebensmittel, Geld oder Wein zu bekommen.
Kurz nach Hennings Rückkehr
wurden dann im Petrowsky-Werk Gewehre (nach Stettiner Vorbild) und Degen hergestellt sowie Drahtziehereien eingerichtet. Aus dem dort
erstmals gezogenen Draht ließ Henning im
Mai 1718 für den Sommergarten in Petersburg
ein schönes Gitter anfertigen.
a) Woltner, Margarete: Zur
Frage der Unter-tanenschaft von Westeuropäern
in Rußland bis zur Zeit Peters des
Großen einschließlich, In „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas", Jahrgang 3, Breslau, 1938, Seite 59.
Im Jahre zuvor (1717)
bereitete ein Steuer-einzieher namens Ischrin
dem Chef der Olonecer Werke viel Ärger.
Ischrin war ein Mann von höchst
zweifelhafter Moral, der neben den Unannehmlichkeiten, die er Henning zufügte, auch viele Beleidigungen vorbrachte.
Henning mußte sich seiner erwehren, indem er den Grafen Apraksin
bat, den Mann abzuberufen und einen anderen Steuereinnehmer
herzusenden.
Auf Hennings Bitte hin
sandte man zu ihm nach Olonec im Jahre
1718 den Leibarzt des Zaren und ersten Präsidenten
der Petersburger Akademie, Laurentius Blumentrost
d. J. (1692—1755), dem Henning die von
ihm entdeckte Mineralquelle zeigte. Der Arzt untersuchte die Heilkraft der Quelle und berichtete mit Lob und Begeisterung darüber dem Zaren, auf dessen Befehl dann am Brunnen ein
Palais zum Empfang hoher und höchster Gäste
errichtet wurde. Henning und
Blumentrost gaben dem Heilwasser den
Namen „Martial". Das ist die Quelle,
von welcher der Briefschreiber aus dem Jahre 1811, wie wir eingangs berichteten, erzählte.
Die Reisen in der
Umgebung des Onegasees hingen allerdings
auch damit zusammen, daß in diesem
Jahre immer wieder kleine russische Militärposten
(280 km entfernt von den
Petrowsky-Werken) von schwedischen Truppen
angegriffen wurden. Henning organisierte
Abwehrmaßnahmen und versuchte, weisungsgemäß zu
erfahren, ob dabei finnische Soldaten den
Schweden halfen.
Aber Hennings persönlicher
Höhepunkt in diesem Jahre 1718 dürfte
der Besuch seines Vaters gewesen
sein. Der Zar empfing den Vater seines Hüttenchefs
sehr höflich in Petersburg, gab ihm 100 Rubel für seine Reiseauslagen und beförderte ihn sogleich zum Major der Artillerie. Kurz darauf schrieb Georg Wilhelm Henning an Apraksin: „Mein Vater hat Lust, dem Zaren zu dienen, jedoch nicht unter meiner Leitung, was auch ich wünsche." Vielleicht, so meint Henning, könne man seinem Vater eine Stelle in der Garnison Keksholm oder in Moskau geben. Ob diese Bitte erfüllt wurde, ist unbekannt. Aber soviel steht fest, daß Hennings Vater, der
ja, wie wir wissen, „Stück-Capitain" war, aus dem Westen einen Spezialisten des Bronzegusses für Kanonenrohre mitgebracht hat25).
Der Vater starb um 1726
und hinterließ seinem Sohn ein Erbe
von 2000 Rubeln.
Zu Beginn des Jahres
1719 besuchte Zar Peter der Große wieder einmal die
Olonec-Werke und schenkte Henning bei dieser Gelegenheit
sein Porträt, besetzt mit Diamanten
im Werte von 600 Rubeln.
Bei dieser Gelegenheit erhielt Georg Wilhelm Henning wohl auch den Auftrag, nach
Deutschland, Holland, England und Frankreich zu reisen, um dort Bergwerke zu
besichtigen und Modelle und Pläne
mitzubringen. Er fuhr über Danzig und Kassel bis Amsterdam und zurück über Hamburg, Berlin und abermals Danzig. Ob er in England und Frankreich war, wissen wir nicht. Sicher aber
war er in Holland, Sachsen und Preußen. Insgesamt hatte er 16
Fachleute, bewährte Meister, angeworben. Er wollte auch nach Suhl in Thüringen, um die dortigen Waffenfabriken zu
besichtigen. Doch geht
") Alexander Danilowitsch Fürst von Menschi-kow (1672—1729), Sohn eines Stallknechts, wurde als Bäckerlehrling und Pastetenverkäufer
Spielgefährte des jungen (späteren Zaren) Peter in Moskau, begleitete den Zaren auf seiner Reise nach Holland und England, konnte zunächst weder lesen noch schreiben, erhielt später die Oberaufsicht über die Erziehung des Zarensohns Alexej, zeichnete
sich im Nordischen Krieg 1702 vor Schlüsselburg aus.
In diesem Jahre wurde nach der Eroberung von
Marlenburg die gefangengenommene junge
Frau eines schwedischen Dragoners,
Martha Skowron-ska, seine Konkubine,
bis Peter I. sie ihm kurzerhand wegnahm und
zur eigenen Geliebten machte. Als sie
später Zarin wurde, hat sie Menschikow stets
begünstigt. Mensch ikow wurde 1702 vom
deutschen Kaiser Leopold I. zum Grafen, 1706 zum deutschen Reichsfürsten und vom Zaren zum russischen Fürsten
und Herzog von Ingerman-land erhoben. Er zwang
die Schweden 1709 zur Kapitulation und
wurde Feldmarschall. 1710 eroberte er Riga und 1713 Stettin. In den Jahren
1714, 1719 und 1720 wurde er der schlimmsten
Bestechungen und Veruntreuungen angeklagt
und erlangte nur durch die Fürsprache
der Zarin die Gunst Peters I. zurück. Nach Peters
Tod (1725) erreichte Menschikows
Macht den höchsten Gipfel. Er veranlaßte die Zarin, Peter II. als Thronfolger einzusetzen und erwirkte die Verlobung seiner Tochter mit Peter II. 1727 wurde Menschikow des Hochverrats angeklagt sowie der Teilnahme am Tode des Prinzen Alexej (siehe Anmerkung 40), der Absicht auf Erwerb der Zarenkrone, vielfacher Bestechungen und Veruntreuungen usw. Mit seiner Familie wurde er nach .Beresow in Sibirien verbannt. Sein unermeßliches Vermögen verfiel der Krone. Er starb Im Jahre 1729 in Beresow. 2S) Wie Anm. 17. Seite
.103.
aus seinen Briefen nicht hervor, ob er dort gewesen ist. Bei seinem Aufenthalt in Berlin empfing ihn
der preußische König26) und verlieh ihm den „Orden de la
generosite" (Vorläufer des „Pour-le-merite").
In den Niederlanden hatte
Henning die Tochter eines reichen Kaufmanns kennengelernt, die mit ihm nach Rußland zog und die er in Petersburg heiratete. Das Hochzeitsgeschenk
des Zaren bestand aus einer Geldsumme von
1800 Rubeln.
Zu jener Zeit ließ Georg Wilhelm
Henning nach Art der alten Siegerländer
Hammerweiher, jedoch viel größer,
eine Art Talsperre mit einem Erddamm In Petrosawodsk anlegen. Wenn nämlich
die angeworbenen Fachkräfte und die
Maschinen eintrafen, sollten die Blasebälge mit Wasserkraft arbeiten können. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden
sie von Menschenkraft angetrieben.
Schon lange hatte Henning
dem Zaren die Errichtung eigener
Waffenfabriken vorgeschlagen und auch Pläne
dazu eingereicht. Als Peter I. nun eine seiner Residenzen, Dubky, besuchte, hielt er eine Stelle am Flusse
Sestra dafür geeignet, und im Juli
1721 erteilte die Admiralität Henning den Auftrag, hier die geplante Waffenfabrik Sestrorec zu erbauen. Das Material dazu lieferten die Olonec-Werke.
Im Februar 1722 weilte der Zar in den
Petrowsky-Werken und fuhr mit Henning zu den Martial-Quellen. Offensichtlich
war Peter der Große mit Hennings Arbeiten mehr als zufrieden. Er sparte nicht mit Lob und beförderte
ihn am 6. März zum Generalmajor der
Artillerie. Viele seiner Leute wurden ebenfalls befördert.
Einen Monat später (im April 1722) war Henning mit dem Zaren in Moskau und machte
Vorschläge, wie man eine Stelle, an der zwei Flüsse zusammenflössen,
zu einer guten Anlegestelle oder einem Hafen
ausbauen könne als Verbindung
mit der Moskwa oder dem Flusse Jausy.
Zu selben Zeit beauftragte der Zar den nunmehrigen Generalmajor Henning, sich um die sibirischen Eisenwerke zu kümmern. Der bisherige Beauftragte für die
Ural-Industrie, ein sehr tüchtiger Mann namens Vasilij N. Tatiäcev27),
geriet in einen Streit mit dem Wirtschaftskönig
des Urals, Nikita Demidov28),
der sich mit der Zeit ein Monopol
für Eisenlieferungen an
die
Admiralität angeeignet hatte und die Preise
festlegte, wie er wollte. In dem energischen TatiSfev sah Demidov eine Gefahr für seinen Absolutismus und verleumdete über den Grafen Apraksin den jungen Mann beim Zaren. Der aber begab sich in die Höhle des Löwen und bat den Zaren in Petersburg, einen verläßlichen Mann zur Überprüfung der Dinge in den Ural zu entsenden. Er schlug vor, daß Henning dieser Mann sei, und
der Zar sagte zu.
Mit seinen Leuten29)
brach Henning am 22. Juli 1722 auf und erreichte, von Moskau aus auf dem Wasserwege reisend, am 2. Oktober 1722 Kungur. Zumindest einer seiner
Mitarbeiter stammte aus dem Siegerland, nämlich
der Markscheider, Probierer und
Garmacher Wilhelm Henrich Stlfft aus der bekannten Hilchenbacher Familie Stifft. Er wurde 1697 als Sohn des Johann Ebert Stifft und der Katharina Elisabeth Mahn geboren. Henning besichtigte die Werke in der Umgebung von Kungur und Solikamsk, gab seine
Anweisungen und fuhr dann zu Demidov zur Untersuchung des Streites mit Tatis£ev. Er schrieb über
den Industriekönig des Urals in
einem Brief: „Bisher störte ihn niemand. Sie fürchteten ihn so, daß niemand ein Wort zu sagen wagte, und tat, was er wollte. Ihm gefällt es
gar nicht, wenn die Werke Eurer Majestät hier
aufblühen, denn er möchte mehr Eisen verkaufen und allein den Preis bestimmen. Er will, daß alle freien Arbeiter in seine Werke gehen und nicht in die Euren."
") Friedrich Wilhelm I. (1688—1740), der „Soldatenkönig".
v) V. N. Tatiäcev (1686—1750), Wirtschaftsorganisator, Staatsmann und Wissenschaftler, vergl. Anm. 20.
M) Nikita Demidow, um 1665 geboren, war ursprünglich Hammerschmied In Tula, lieferte während des schwedischen Kriegs der Armee Peters des Großen Kanonen und Gewehre. Er legte
1669 zu Newjansk im späteren Bezirk
Jekaterinburg die erste sibirische Eisengießerei
an, die er mit viel Geschick verwaltete und ausbaute, so
daß ihn der Zar adelte und ihm die
Fabrik schenkte. Er entdeckte zufällig 1725 In Sibirien die
Minen von Kolyba, d.eren Ausbeute den unermeßlichen Reichtum der Familie Demidow u. a. begründete.
") Es waren u. a.
Markscheider Wilhelm Stifft, der in Petersburg das
Laboratorium des Bergkollegiums
eingerichtet hatte und bereits Oberaufseher der
Bergwerke von Perm und Lehrer der
Markscheidekunst war; Bälgemeister K. F.
Kayser; Weißblechschmied Wapler; Verzinner Junghänel
u. v. a.
Es scheint so, als habe Apraksin den Generalmajor Henning gebeten, den Streit zugunsten von Demidow zu entscheiden, aber Henning
urteilte ohne Beeinflussung. Er
gewann die Überzeugung, daß Tatiscev im Recht sei, und bat den
Zaren, Tatiscev und das von ihm
geleitete Bergamt völlig zu
rehabilitieren und Tatiscev wieder in sein
Amt einzusetzen. „Zu dieser Sache ist kein
Besserer zu finden als der Kapitän Tatisdev." Er habe Erfahrung und sei sehr fleißig. Trotzdem entschloß sich der
Zar anders. Er sandte zwar Tatiscev
wieder in den Ural, aber als
Mitarbeiter Hennings. Die beiden
arbeiteten ausgezeichnet zusammen.
Ende 1722 begannen sie
mit der planmäßigen
Errichtung einer Stadt, die sich aus dem im Bau
befindlichen Eisenwerk entwickelte. Henning bat
die Zarin, die „schöne"
Katharina I. (Jekaterina), der neuen
Stadt ihren Namen geben zu dürfen, und erhielt dazu die Erlaubnis. Unter
dem Namen Jekaterinburg30)
entwickelte sich die Stadt zum Zentrum des
Eisenhüttenwesens im Ural. Zehn Jahre später
gab es hier bereits neben einem
Eisenwerk mit zwei Hochöfen, drei Hammerwerken, zwei Kupferschmelzen und
Anlagen zur Herstellung von Werkzeugen, Blech, Zinn, Draht, Ankern, Kupfergeräten
und anderen Produkten ein Laboratorium für Erzuntersuchungen, ein Hospital, eine Schule, 29 Läden, 335 Wohnhäuser und natürlich die notwendigen Verwaltungsgebäude
für die Unterbringung des sibirischen Bergamtes. Weil Tatiscev zu
seiner Weiterbildung und zu
Wirtschaftsstudien nach Schweden
ging, blieb Henning mit einer überwältigend
großen Aufgabe alleinverantwortlicher
Mann für die sibirische Industrie
und Chef der staatlichen Ural-Werke. Das
Wech-Istetsky-Werk an der Uktusk ist u.
a. seine Gründung31), ebenso die Werke in Werchotur,
Pyskorsky, Lalinsky, Jago-schichinsky. In
jener Zeit boten ihm die Barone
Stroganow32) an, auf ihren Ländereien ein privates
Eisenwerk zu bauen. Henning hätte wohl
ganz gern persönlich ein Eisenwerk besessen und benutzte das Angebot
der Stroganows, den Zaren um die Übereignung
des Werkes Pyskorsky zu bitten. Aber
der Zar lehnte ab. Seine Erfahrungen
mit privaten Unternehmern waren nicht
gerade gut.
Im August 1724 bat
Henning den Zaren um
einen Kur-Urlaub; seine
Frau und er seien beide krank und wollten die Martial-Quellen
aufsuchen. Im August 1724 sprach er beim Zaren vor und gab einen umfassenden Bericht über alle sibirischen Anlagen zur Metallgewinnung sowie über die damit verbundenen
Kosten und Einnahmen.
Georg Wilhelm Henning förderte
durchaus nicht nur
Eisengewinnungsanlagen, sondern auch die der
Nichteisenmetalle. So gründete er z. B. 52 Werst (1 Werst =
1,067 km) von Jekaterinburg entfernt das
Kupferhüttenwerk Polefskoi, das 1759 an Alexej Turtschaninoff verkauft wurde33).
Am 8. Februar 1725 starb nach nur dreitägiger Krankheit Zar Peter I., dem
der Senat auf seinen Antrag den Beinamen „der Große" verliehen und als ersten Kaiser von Rußland begrüßt hatte (wodurch neben
die alte ehrwürdige Kaiserwürde der Deutschen
die neue der Russen trat).
Erst zweiundfünfzig
Jahre alt war Peter, als er starb. Überanstrengung,
Alkohol und Ausschweifungen hatten selbst diesen riesenhaften Körper zerstört34).
Er soll sich angeblich gerade angeschickt haben, seinen Letzten Willen zu formulieren, als der Tod ihn überraschte. Er hatte schon geschrie-
K\ Die Stadt heißt seit 1924 Swerdlowsk, hat über 800 000 Einwohner, zwei Universitäten und andere Hochschulen. In ihr wurde 1918 der letzte
russische Zar Nikolaus II. mit seiner Familie ermordet.
") Wie Anm. 2, Seite 1124.
") Die Stroganows
waren eine sehr angesehene russische Adelsfamilie,
deren Ahnherr Aniki] Stroganow schon zu Ende
des 15. Jahrhunderts große
Salinen und kleinere Eisenwerke im Ural besaß.
Seine Söhne Jakov und Grigorij wurden durch
Erfindungen im Berg- und Salinenwesen
bekannt. Die Stroganows erhielten durch Schenkungen des Zaren Iwan IV. (1533—1584) südlich der Stadt Perm große Gebiete, die sie kolonisierten und durch Befestigungen schützten. 1574 wurde ihnen zusätzlich das noch mongolisch beherrschte Sibirien mit dem Recht auf eigene Truppen, Befestigungen und Gerichtsbarkeit übertragen. Peter der Große nahm den Brüdern Alexander Grigorjewltsch Stroganow (1699—1754) und Nicolai Grigor-jewitsch
Stroganow (1700—1758), mit denen Henning es zu tun hatte,
Im Jahre 1722 ihre gewaltigen Vorrechte ab
und entschädigte sie nur mit dem
Barontitel.
") Hermann, Benedikt
Fr. Joh.: Versuch einer mineralogischen
Beschreibung des Uralischen Erzgebürges,
2. Teil, Berlin und Stettin, 1789, Seite 68.
") Wie Anm. 12, Seite 76 f.
ban: „Übergebt
alles dem...", als er die Feder fallen ließ35).
Der Berghauptmann und
Generalmajor Henning trauerte dem
Zaren ehrlich nach. Er hatte die Gunst des
Herrschers genossen, ohne zum Kreise der „Günstlinge"
zu gehören, die abwechselnd vom Zaren
beschenkt und geprügelt wurden, wie z. B. Menschikow. Die üblen
Machenschaften um die Nachfolge Peters des Großen hat Henning wohl noch miterlebt, denn er fuhr erst im Juli 1725 wieder zu seinen sibirischen Werken
in den Ural.
Die allgemeine
Unsicherheit wurde von Katharina, der Witwe des Zaren, und von Menschikow ausgenutzt. Sie gewannen die Garde für Katharina und brachten den adligen
Soldaten die Überzeugung bei, Katharina sei von Peter zur Nachfolgerin ausersehen gewesen. Die
Beratung jener Adligen, die einen anderen Nachfolger aus der Verwandtschaft
Peters wünschten, wurde vom Trommelklang der aufmarschierenden Soldaten erstickt36).
Die Frau, der zu Ehren
Henning seine Stadtgründung
Jekaterinburg (Burg der schönen Katharina)
genannt hatte, und die ihm stets sehr
wohlgesonnen war, bestieg nun als Zarin den
russischen Thron. Georg Wilhelm Henning hatte ihren sagenhaften Aufstieg in
allen Phasen miterlebt:
Bei der Einnahme von
Marienburg im Jahre 1702 wurde auch der deutsche Pastor Ernst Glück (1654—1705) gefangengenommen. Er, ein Sachse von Geburt, ein eifriger Pädagoge und Missionar, mit gründlicher deutscher Universitätsbildung (Philologie und
Theologie), lernte in Livland Lettisch und
Russisch und wurde nach seiner Gefangennahme nach Moskau verbracht, wo
er im Auftrag Peters des Großen, der auf ihn aufmerksam geworden war, das
erste „Gymnasium" gründete37).
In seinem Hause lebte „das
schöne Mädchen von
Marienburg", eine Litauerin, die 1684 von Eltern niederen
Standes geboren worden war. Als sie früh
Waise wurde, nahm Glück sie in
sein Haus und ließ sie mit
seinen Kindern protestantisch erziehen. Martha, so hieß sie,
heiratete 1702 einen schwedischen Dragoner,
der kurz darauf ins Feld zog. Im
August wurde Marienburg von den
Russen erobert und Martha gefangengenommen. Sie ging durch die Hände mehrerer russischer Offiziere und
landete schließlich bei Menschikow
(siehe Anmerkung 24). Bei diesem sah Peter I. die sehr schöne junge Frau, nahm sie kurzerhand Menschikow weg und machte sie zu seiner Geliebten.
Ihm zuliebe trat sie 1703 zur griechisch-orthodoxen
Kirche über und erhielt bei der
Taufe von ihrem Paten, dem Zarewitsch Alexej, den Namen Katharina Alexejewna. In den Jahren 1706 bis 1709 gebar sie dem Zaren drei Töchter. Peter, der seine Liebschaften oft und schnell wechselte, kehrte immer wieder zu ihr zurück. Sie
war kräftig und konnte fast so
trinken wie er. Ihr konnte er seine
Sorgen erzählen, sie hatte eine mütterliche
Gebärde und ein beruhigendes
Wort, sie half ihm auch, mit der streichelnden Hand über seine Stirn, seine epileptischen Anfälle zu überstehen.
Sie war weder dumm noch schwach38).
Im Jahre 1711, als Peters
Truppen am Pruth von den Türken
geschlagen waren, soll sie in das Zelt des türkischen Großwesirs gegangen und diesen „bestochen" haben, so daß
die Türken abzogen und das russische Heer gerettet
war. Kurz darauf, im Jahre 1712, wurde die
ehemalige Magd vor dem Priester die
rechtmäßige Gattin des Zaren, was nicht hinderte, daß er sie
gelegentlich prügelte. 1724 machte Peter sie in Moskau zur Kaiserin. Als er sie krönte (bisher waren immer nur die Zaren gekrönt worden), fiel sie vor ihm nieder, weinte und umschlang seine Knie. Der Zar hob sie lächelnd auf. Er muß damals sehr glücklich gewesen sein. Nach dem Tode Peters bestieg sie nun den Thron Rußlands und schenkte
aus diesem Anlaß Georg Wilhelm Henning 1500 Rubeln, zugleich mit der Bestätigung der weiteren Leitung der sibirischen Werke. Katharinas Tätigkeit als Zarin
erschöpfte sich im Genuß ihrer Stellung. Meistens war sie betrunken. Ihr früherer Geliebter Menschikow leitete an ihrer Statt die Regierungsgeschäfte39). Als
sie an den Folgen ihres Lebenswandels
im Mai 1727 starb, hatte Menschikow
sie überredet, den Enkel Peters I. und Sohn des unglücklichen
3S) Olivier, Daria:
Die Romanows, Lausanne,
1968, Seite 175. ") Wie Anm. 12, Seite 80. 37) Kljutschewskij,
Wassilij Ossipowitsch (1842—
1911):
Russische Geschichte, Zürich, 1945,
Teil I, Seite 366. M) Wie Anm. 12, Seite 76.
") Wie Anm. 12, Seite 80.
Alexej'10), Peter II., mit Menschikows Tochter
zu verloben. Peter II. wurde nach Katharinas Tod Zar. Unter ihm
schien Menschikow den Gipfel seiner Macht
erreicht zu haben, aber der junge Zar befreite sich von der Bevormundung und schickte Menschikow in die Verbannung nach Sibirien (siehe Anmerkung 24).
In diesen Jahren blieb
Henning fast ausschließlich im Ural
und kümmerte sich um seine sibirischen Werke. Im Februar 1728 weilte er allerdings in Petersburg, wo der junge Zar ihn zum Generalleutnant bei der Artillerie ernannte und ihm erneut die Leitung der sibirischen Werke bestätigte.
1000 Rubel Reisespesen wurden ihm angewiesen.
Am 22. 5. 1730 kehrte
Henning nach Petersburg zurück, vermutlich weil der
junge Zar Peter II. im Januar an den Blattern
gestorben war im Alter von vierzehn Jahren, drei Monaten und sieben Tagen. Er hatte zwei Jahre acht Monate und sieben Tage regiert und starb jünger als jeder gekrönte
Romanow vor und nach ihm41).
Zarin wurde Anna Ivanovna42), die
Hennings Vollmachten in ganzem Umfange bestätigte und ihn, wie es scheint, in den Adelsstand erhoben hat. Jedenfalls fügte Henning
seit dieser Zeit seinem Namen das französische
Adelsprädikat „de" hinzu. Möglicherweise tat er es jedoch aus eigener Initiative in Erinnerung daran, daß seine Vorfahren angeblich aus
altem niederländischen Adel stammten.
Henning hatte nach
Petersburg einen umfangreichen Bericht
mitgebracht, den er mit dem Berg-Kollegium zusammengestellt hatte und in dem die einzelnen Werke, ihr Zustand,
die Anzahl der Arbeiter und die Erzeugnisse
nach Art und Menge aufgeführt wurden.
Zweihundertundsieben Jahre später, nämlich 1937, wurde diese
Arbeit neu aufgelegt und vom Moskauer Staatsverlag unter dem Titel „Opisanie uralskich i sibirskich zavodov"
herausgegeben, ein Beweis für die Gründlichkeit
und Bedeutung der Arbeit Hennings.
Am 6. 6. 1731 erhielt
der einstige Former aus Siegen und nunmehrige geadelte Generalleutnant neben einem Geschenk von 1000
Rubeln einen der höchsten russischen Orden,
den „Orden vom Heiligen Alexander Newskij"43).
Dieser Orden war 1722 von Peter dem Großen gestiftet worden, hatte nur
eine Klasse und konnte nur an Personen
vom Generalmajorsrang aufwärts verliehen werden. Er besteht aus einem
goldenen, randemaillierten, achtspitzigen
Kreuz mit dem Bilde des heiligen
Alexander Newsklj (im goldenen Harnisch zu
Pferde) in der
") Alexej, der älteste Sohn Peters des Großen
aus seiner ersten Ehe mit Eudoxla
Lapuchln, geb. 1690, geriet früh unter den Einfluß der altrussischen Partei und wurde so zum Gegner des Vaters, der ihn wohl nie gellebt hat, schon well er Alexejs Mutter nie liebte. Der Zar forderte Alexe] wiederholt auf, seine Gesinnung zu ändern.
Immer unterwarf sich der Prinz demütig — zu demütig, wie Peter fand. Schließlich forderte er den Sohn auf, dem Thron zu entsagen und Mönch zu werden. Alexej floh 1717, wurde In Neapel von Peters Häschern gefunden und kehrte mit ihnen im Vertrauen auf gütliche Versprechungen des Vaters zurück. Kaum war er In Rußland, da brach der Zar alle Zusagen; auf der Folter (auch vom eigenen Vater ausgepeitscht)
gestand Alexej die Namen seiner Gesinnungsgenossen. Es
folgte ein furchtbarer Massenprozeß, Schafott, Galgen und Rad hatten wieder grausige Arbelt. Auch gegen Peters Gemahlin Eudoxla, die seit Jahren in einem Kloster lebte, richteten sich Untersuchungen. Sie ergaben nichts Verräterisches, doch kam dabei heraus, daß die seit Jahren von allen Freuden der Welt abgesonderte Frau In Ihrer Zelle ein Verhältnis mit einem Offizier eingegangen war. Der Schuldige starb martervoll am Pfahl. Eudoxla, die Mutter Alexejs, wurde In Gegenwart ihres Sohnes ausgepeitscht und eingekerkert. Den Sohn verurteilten 127 Richter einstimmig
zum Tode. Bevor das Urteil vollstreckt werden konnte,
starb Alexej. Dunkel sind die Umstände
seines Todes. Am wahrscheinlichsten bleibt, daß sein Leben unter Knutenhieben am 7. Juli 1718 erlosch (wie Anm. 12, Seite 73).
") Wie Anm. 35, Seite 182.
") Anna Ivanovna, geb. 1693 als zweite Tochter des Zaren Ivan Alexejewitsch, des älteren Halbbruders Peters des Großen, heiratete 1710 den Herzog Friedrich Wilhelm von Kurland, der ein Jahr später starb. Sie mußte nach Peters des Großen Tod urkundlich versprechen, wenn sie Zarin werde, auf selbstherrscherliche Gewalt zu verzichten und nichts ohne Mitwirken des Reichsrates zu tun, brach aber dieses Versprechen kurz nach der Thronbesteigung. Ihr Geliebter Biron (siehe Anm. 49) herrschte in Ihrem Namen. Die Führer der gegnerischen Adligen bestiegen das Schafott, und Tausende wurden nach Sibirien verbannt. Sie starb am 28. 10. 1740.
") Alexander Newsklj (1218—1263),
russischer Nationalheld, Fürst von
Nowgorod (1247), Großfürst
von Wladimir (1252), besiegte 1240 die
Schweden an der Newa (daher sein Beiname
Newskij) und 1242 die Schwertritter auf dem zugefrorenen Pelpussee. Er legte die Nordwestgrenze des russischen
Reiches fest.
Mitte und wird an einem roten, breiten, über der linken Schulter nach der rechten Hüfte zu hängenden Band getragen.
Während seiner Tätigkeit
als Chef der sibirischen Werke hat Henning in Jekaterin-burg eine ganze Reihe
von Gebäuden errichtet, und zwar nicht
nur das sibirische Bergamt, sondern auch Häuser,
die seine umfassende Sorge für die von ihm gegründete Stadt erkennen ließ, wie z. B. eine große Schule für die Kinder der Meister und
ein Krankenhaus. 1807 gab die Regierung einen
Bericht heraus, in dem steht: „General
Henning war nicht nur der Schöpfer dieser
Werke, sondern auch ihr Gesetzgeber. Noch heute werden
sie nach den Anweisungen Hennings geleitet."
Unter Anna Ivanovna
schwand das Interesse an vielen Schöpfungen Peters des
Großen. Man war unfähig, seinen Ideen zu folgen. Außerdem wurden viele Energien durch Intrigen und Parteikämpfe zunichte gemacht.
Manches bereits Geschaffene wurde-vernachlässigt und verkam allmählich.
Nur wo Peters alte Mitarbeiter verhältnismäßig selbständig weiterarbeiten
konnten, ging es noch vorwärts,
wie z. B. unter Henning im Berg- und
Hüttenwesen44) oder unter Münnich45) am
Ladogakanal, unter Ostermann4')
oder unter Wilhelm Augustin von
Steuben47).
Noch im Jahre 1733 gründete
Henning unter dem Namen Imperatuzi Anni
Savod eines der ergiebigsten Werke der
Krone, den später Sisersk genannten
Betrieb mit zwei Hochöfen, 9 Hämmern
und 1000 Arbeitern. Er wurde 1759 an Alexej Turtschaninow verkauft48).
Weshalb im März
1734 Hennings alter Mitarbeiter Tatiscev die
Leitung der sibirischen Werke übernahm, ist unbekannt, doch war damit keineswegs eine Beanstandung an Hennings
Wirken verbunden, wenn auch TatiSäev gleich nach
der Übernahme des
") Wie Anm. 17, Seite 112.
") Burkhard Christoph von Münnich, geb. 19. 5. 1683 zu Neuhuntorf in Oldenburg, 1699 Ingenieur In der französischen Armee, 1701 in hessen-darmstädtlschen und 1705 In hessen-kasselschen Diensten, erwarb sich bei Malplaquet 1709 den Oberstleutnantsrang, geriet,
schwer verwundet, in französische Gefangenschaft.
Nach Freilassung legte er 1713 Karlshafen
an, 1716 als Oberst In kursächsischen,
1721 als Ingenieurgeneral
In russischen Diensten. Baute den Ladogakanal, den Hafen von Kronstadt, die Festungswerke von Riga. Von Peter I. zum Generalleutnant, von Peter II. 1727 zum General en Chef und 1728 von der Zarin Anna zum russischen Grafen erhoben. 1731
Generalfeldzeugmeister, 1732 Generalfeldmarschall
und Präsident des Kriegskollegiums,
gab dem russischen Landheer eine neue Organisation,
eroberte 1734 Danzig und stillte die Unruhen
in Warschau, übernahm den Oberbefehl
gegen die Türken in der Ukraine, eroberte
1736 die Krim, schlug 1737 die Türken,
besetzte die Moldau, worauf 1739 der Friede
von Belgrad zustande kam. Er stürzte
den zum Regenten des Reichs erklärten
Biron (vergl. Anm. 49), wurde Premierminister
und betrieb eifrig das Bündnis mit Preußen.
Weil die Regentin aber zu Österreich
neigte, nahm Münnich im Mai 1741 seinen
Abschied, wurde bald darauf bei der
Thronbesteigung der Zarin Elisabeth verhaftet und
zum Tode verurteilt. Erst auf dem Schafott
wurde er begnadigt, nur seiner Güter für
verlustig erklärt und nach Pelym in Sibirien
verbannt, wo er 20 Jahre einsam und
unter Entbehrungen lebte. 1762 wurde er von
Peter III. völlig rehabilitiert und nach
dessen Sturz von der Zarin Katharina II. zum Generaldirektor der Häfen am Baltischen Meer ernannt. Er starb am 16.
Oktober 1767 In Petersburg.
") Heinrich Johann
Friedrich Ostermann (russisch Andrej Iwanowitsch), geboren 30. 5. 1686 als Sohn eines Pfarrers in Bochum, tötete einen Gegner im Duell und floh von Jena nach Holland, trat 1704 in russischen Seedienst, wirkte wesentlich mit zum Abschluß des Friedens am Pruth (1711) und leitete die Friedensverhandlungen zu Nystad (1721), wurde daraufhin zum Freiherrn und Geheimrat und 1725 zum Reichsvizekanzler ernannt. Die Zarin Katharina I. bestimmte ihn auf dem Sterbebett zum Oberhofmeister und zum
Mitglied des Regentschaftsrates während der Minderjährigkeit
ihres Nachfolgers Peter II. 1730
wurde er in den Grafenstand erhoben und
von der Zarin Anna mit dem Ministerium
der auswärtigen Angelegenheiten betraut.
Bei der Thronbesteigung der Zarin
Elisabeth wurde Ostermann beschuldigt, Elisabeths Ausschließung von der Thronfolge bewirkt und das Testament der Zarin Katharina I. unterschlagen zu haben. Er wurde zur Hinrichtung durch das Rad verurteilt und hatte am 27. Januar 1742 schon das Blutgerüst bestiegen, als das Todesurteil in lebenslängliche Verbannung nach
Sibirien verwandelt wurde. Hier starb er am 25. Mal 1747 in Beresow. Er hinterließ zwei Söhne und eine Tochter, die den General Tolstoi heiratete.
«) Wilhelm Augustin von
Steuben (geb. 1699). Vater des bekannten
Organisators der amerikanischen Armee und
Generalstabschefs Washingtons, Nachkomme
des Grafen Johann des Mittleren von
Nassau-Siegen. (Vergl. Lück,
Alfred: Interessante Nachkommen aus dem Hause
Nassau-Siegen, in „Siegerland, eine Schriftenreihe", Band I, Kreuztal, 1947, Seite
19.)
«•) Wie Anm. 2, Seite 1138.
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sibirischen Bergamtes an Biron49)
schrieb: „Wie ich aus allem sehe, hat der General-Leutnant Hennich (I) an die hiesigen Werke viel Mühe und Fleiß
gewendet, allein ist beklagenswürdig, indem er die russischen Kanzleiaffären nicht verstehet50)..."
Seit
1735 weilte Henning nun in Petersburg, wurde Mitglied des Militär-Kollegiums
(1737), blieb jedoch nach einem
kaiserlichen Erlaß vom 21. 4. 1735
als Generalleutnant bei der Artillerie
und erhielt obendrein am 9. 6. 1735 die
Leitung der Sestrorec-Werke.
1737 baute er in Tula ein Werk zur Herstellung von Kleinteilen aus Kupfer und Messing und wurde Chef der dortigen Waffenfabriken.
Am 3. März 1740 berief man ihn
unter Belassung seiner Stelle bei der Artillerie
erneut in das Militärkollegium. Ab Januar 1741 versah er zusätzlich ein Amt in der Artillerie- und Rüstungskanzlei.
Im Jahre 1740 war die Zarin Anna gestorben. Sie hatte viele tüchtige Deutsche ins Land gerufen, sich selbst aber ganz ihrem Geliebten
ausgeliefert, einem Kurländer aus dem
westfälischen Geschlecht der Bühren, der sich jetzt Biron nannte. Er herrschte sehr hochmütig, nahm keine Rücksicht auf den russischen Adel und machte dadurch die
Deutschen recht verhaßt.
Anna
hatte zum Thronfolger einen Urenkel Iwans V. bestimmt, der als Iwan VI.51) Zar und als Iwan I. Kaiser wurde. Er war noch ein Säugling, als Anna starb, und dem Namen nach übernahm seine Mutter Anna Leopoldowna52) die Regierung. In Wirklichkeit herrschte Biron weiter, machte sich aber
immer verhaßter, auch unter den Deutschen, und Münnich und
Ostermann stürzten ihn schließlich
im Einvernehmen mit der Regentin. Er
wurde nach Sibirien verbannt53).
Zarin wurde nunmehr mit Hilfe der Garde eine Tochter von Peter dem Großen
und der Jekaterina, Elisabeth Petrowna.
Der kleine Iwan kam in strenge Haft
und blieb dort, bis er bei einem verunglückten
Befreiungsversuch (23 Jahre später!)
getötet wurde.
Auch Anna
Leopoldowna hatte Henning in allen seinen Ämtern
bestätigt. Er erhielt von ihr 2000 Rubel für die Verwaltung der Tula- und der Sestrorec-Werke. Außerdem behielt er bis zum Lebensende sein Amt bei der Artillerie.
Am 12. 4. 1750 starb Georg Wilhelm Henning in Petersburg.
Sechs Wochen vorher hatte er sein Testament gemacht. Danach besaß er Dörfer in Livland, die er vom Grafen Schuwalow54) für 33 000 Rubel
gekauft hatte. Das Dorf Asylowa hatte
er an den Grafen Woronzow
verpachtet. Ein Teil seines Bargeldes
ruhte auf einer Livländer Bank, ein
Teil befand sich in Hamburg in Privat-
4') Ernst Johann Biron,
Herzog von Kurland, geb. 1. 12. 1690 als
Sohn eines kurlän-dischen Gutsbesitzers
namens Bühren, wurde Kammerjunker und
Geliebter der früh verwitweten Anna Ivanovna
von Kurland (siehe Anm. 42), der er sich
unentbehrlich zu machen wußte. Als
sie den Zarenthron bestieg, folgte er Ihr
trotz heftiger Proteste des russischen Adels,
wurde rasch nacheinander Oberkammerherr,
Reichsgraf (als solcher nahm er Wappen
und Namen der französischen Herzöge
von Biron an) und sogar der mächtigste
Mann Im russischen Reiche. Als 1737 die männliche
Linie des Kettelerschen Hauses der Herzoge von
Kurland erlosch, wurde er auf
Empfehlung der Zarin zum erblichen
Herzog von Kurland gewählt. Zum Vormund
des unmündigen Iwan (siehe Anm. 51)
ernannt, bekleidete er die Würde eines
Reichsregenten und wurde herrschsüchtig bis zur Grausamkeit. Viele
Tausende, selbst aus den vornehmsten Geschlechtern, wurden auf seinen Befehl
hingerichtet oder wanderten In die
Verbannung, so daß Münnich
(siehe Anm. 46) sich seiner bemächtigte
und ihn in Schlüsselburg vor ein außerordentliches
Gericht stellen ließ, das ihn zum
Tode verurteilte. Er wurde jedoch zu lebenslanger
Verbannung nach Pelym In Sibirien
begnadigt. Von der Zarin Elisabeth wurde er schon
nach einem Jahre zurückgeholt, und Münnich
wurde in das Gefängnis Birons
nach Sibirien geschickt. 1762 hob Zar Peter III. Birons
Verbannung offiziell auf, und die
Zarin Katharina II. gab ihm das Herzogtum Kurland zurück. 1769 übergab er dort die Regierung seinem (und der Zarin Anna Ivanovna?) Sohn Peter und starb am 28. 12. 1772.
M) Wie Anm. 20, Seite 68.
SI) Iwan VI. Antonowitsch
(1740—1764), der „Zar in der Wiege", Sohn der Anna Leopoldowna (siehe Anm. 52) und des Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig.
a) Anna Leopoldowna (1718—1746), Tochter des Herzogs Leopold von Mecklenburg und seiner Gemahlin Katharina (Tochter des Zaren Iwan V.) heiratete Anton Ulrich
von Braunschweig. Nach einjähriger Regierung
wurde sie nach einer Palastrevolution durch
die Zarin Elisabeth 1741 verbannt.
5J) Wie Anm. 12, Seite 81.
54) Vermutlich Pjotr
Iwanowitsch Graf Schuwalow (1711—1762), faktisch Leiter der Politik der Zarin Elisabeth, im Siebenjährigen Kriege Reorganisator der russischen Armee, besonders der Artillerie; oder sein Bruder Iwan Iwanowitsch (1727—1797), Günstling der Zarin Elisabeth I.
besitz. In Petersburg
besaß er an barem Geld 11 000 Rubel. Sein
ganzes bewegliches und unbewegliches Gut vermachte Henning seinen
beiden Söhnen aus zweiter Ehe.
Er ordnete in seinem
Testament an, seine Beerdigung solle einfach
und leise sein. Es sollte nicht aus Kanonen und Gewehren geschossen werden.
Pferd und Sarg sollten nicht von einem
Baldachin überdacht werden. Man
solle nur ein schwarzes Tuch über den Sarg breiten. Sein Grab
bestimmte er in Petersburg neben dem seiner
ersten Frau.
Die „Extraordinaire Europäische Zeitung" Nr. 42 vom 26. Mai 1750 schrieb damals:
„Petersburg, den 5. May. Am 23. pass. sind S. Excellenz der General-Lieutnant von der Artillerie und Ritter des Heiligen Alexander-Ordens de Hennin im 74. Jahre dero Lebens mit Tod abgangen. S. Exe. sind seit 1696 und
also bei 54 Jahre
in Russisch Kayserlichen Diensten
und haben sich während dieser geraumen Zeit durch dero treu geleistete Dienste einen allgemeinen Ruhm und
Hochachtung erworben. Gestern aber, als
den 4. dieses, wurde das Leichenbegängnis
vollzogen und der verblichene Leichnam in Begleitung eines zahlreichen
Gefolges, des Abends bei Fackelen in der Französisch-Reformierten Kirche beigesetzt."
Die
hier mitgeteilten Lebensdaten treffen nicht
zu, doch dürfte die erwähnte Begräbnisstätte in Petersburg
richtig angegeben sein.
Als
Georg Wilhelm Henning in Siegen geboren wurde, lebte noch
der alte Fürst Johann Moritz von Nassau-Siegen, als Henning
starb, war das gesamte siegensche Fürstenhaus
bereits erloschen. Das alles mag ihn
kaum gekümmert haben, denn er lebte in einer völlig anderen Welt, von
der selbst die gebildeten Leute in der kleinen
Stadt Siegen keine genaue
Kenntnis, ja oft nicht einmal eine Ahnung
hatten.
Der
Junge von der Sieghütte zu Siegen hatte
tatsächlich „eine nicht gemeine Car-riere" gemacht, wie
Pfarrer Achenbach 1811 vermutete. Ihm war es
mit zu verdanken, daß Rußland
in der Mitte des 18. Jahrhunderts
von einem ganz unbedeutenden Eisenhersteller
zu einem der größten Eisenproduzenten Europas geworden war
und große Mengen Eisen, besonders nach England, ausführen konnte55).
Der Vollständigkeit halber sei nachgetragen, daß noch andere Männer, die Beziehungen zum Siegeriand hatten, in jener Zeit in russischen Diensten standen.
Johann Heinrich van Klnsbergen (1735— 1819), der Sohn des Johann Heinrich Ginsberg aus Salchendorf bei Neunkirchen, trat 1771 in russische Dienste, zunächst als Kolonel
im Heere unter General Romansow. Er befand sich später an Bord des ersten
russischen Schiffes, das die Meerenge von Kertsch
durchfuhr, mit einem Geheimauftrag, den er so gut ausführte, daß
er einen Halbjahressold als Geschenk
erhielt. Bei Beratungen über Flottenfragen zog ihn die Zarin Katharina II. oft persönlich
hinzu. 1773 wurde er der Schwarzmeerflotte zugeteilt, zu einem Zeitpunkt, als der russischtürkische
Krieg erneut aufflammte. Mit den beiden, je 16 Kanonen starken Schiffen,
die ihm anvertraut waren, griff er ein mit
74 Kanonen bestücktes türkisches
Geschwader an und blieb nach sechsstündigem
Kampfe überlegener Sieger. Im
September desselben Jahres besiegte er
eine fast vierfache türkische Übermacht.
Seitdem hieß er allgemein „Held
des Schwarzen Meeres". Er erhielt
beträchtliche Geldsummen und den hohen
russischen Orden vom heiligen Georg, später auch
noch die Orden
„Sankt An-
dreas" und (genau
wie Henning) „Alexander Newskij"5«).
Es
klingt wie ein Treppenwitz der Geschichte, daß die
einzige Truppe, die sich „Nassau-Siegen" nannte und eigene Uniformen trug, von einem Manne gegründet wurde, der sich zwar Karl Heinrich Nikolaus Prinz von Nassau-Siegen (1745—1808) nannte, aber nicht die geringste Berechtigung dazu hatte. Sein
Vater war der uneheliche Sohn der Gemahlin des Fürsten Ema-nuel Ignatius von Nassau-Siegen (1688— 1735),
und daher leitete der „Prinz" seine Ansprüche
ab. Für uns ist interessant, daß er unter dem Namen Fürst von Nassau-Siegen ebenfalls russischer Admiral im Schwarzen Meer war. 1783 erhielt er von Katharina II. den Titel Vizeadmiral und das Kommando
einer kleinen gegen die Türken bestimmten
Flottille auf dem Schwarzen Meer, mit
der er 1788 bei Ortschakow die weit überlegene
türkische Flotte fast vernichtete. 1789 erhielt er den Oberbefehl über
die russische Ostseeflotte, besiegte mit ihr das schwedische Geschwader unter Gustav III. im August 1789 bei
Smensksund und ein Jahr später
nochmals an der finnischen Küste, wo
er die schwedische Flotte einschloß. Diese machte jedoch einen unvorhergesehenen Ausfall und vernichtete bzw.
eroberte 46 russische Schiffe. Dieses Mißgeschick erschütterte die
Gunst des angeblich nassau-siegenschen Prinzen in Moskau. Er nahm seinen Abschied offensichtlich jedoch nicht nur aus diesem Grunde, sondern auch weil er mit der bildschönen Polin
Charlotte Godska, Fürstin Sanguska verheiratet war, und die russische
Polenpolitik mißbilligte57).
") Wie Anm. 20, Seite 5.
") Lück,
Alfred: Siegerland und
Nederland,
Siegen, 1967, Seiten 153 ff. J;) Wie Anm. 56, Seiten
133 f.
Neuer Naturpark
Der
Hohe Westerwald soll der 29. Naturpark
des Landes Hessen werden. Vorgesehen ist der Raum
zwischen der Wester-wälder Seenplatte bei Freilingen und dem Nistertal im Westen, der Sackpfeife und dem Kellerwald im Osten sowie der Raum zwischen
Lahn und der Südgrenze von Nordrhein-Westfalen.
1200 Jahre Haiger
In
sechs Jahren (1978) kann Haiger (Dillkreis) seine 1200-Jahr-Feier begehen. Zur
Vorbereitung dieses Festes hat Dr.
h. c. Karl Löber die Herausgabe der „Haigerer
Hefte" in Angriff genommen,
deren erster Band über die natürlichen
Grundlagen des Lebens der Stadt und ihres Raumes inzwischen erschienen ist.
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